EDITH JUNG
Eröffnung Edith Jung
Galerie Inter Art, Stuttgart
25. November 2011



Gibt es die 'blaue Stunde' denn auch im November?
Wir assoziieren mit ihr die sommerliche Dämmerung, wenn "aus Himmelblau langsam
Abendgold wird", wie es Erich Kästner so betörend beschreibt.
Wir assoziieren Ferne und Unendlichkeit, Melancholie und Sehnsucht, Traum und Illusion.
Das 'blaue Band' Mörikes flattert im Frühling, die 'blaue Blume' der Romantik,
sie blüht auf den Wiesen des Sommers. Aber im November?
Für den November hat sich die Galerie Inter Art Edith Jung geholt.
Mit und in ihren Bildern kommt uns das Blau sehr nah, es will uns in seinen Bann ziehen.

Die Farbe Blau - das ist ein großes, ein fast unerschöpfliches Thema.
Sie steckt voller Symbole und Metaphern - sie ist von geradezu philosophischer Komplexität.
'Blue' bedeutet im Englischen auch 'traurig', der Blues ist die melancholische Note des Jazz.
Es gibt ein Blau, das einem "das Herz so angenehm weitet", wie es Hanns-Josef Ortheil
beschreibt. Und es gibt ein latent bedrohliches Blau, wie zum Beispiel bei 'Bluebird'. Das war der
Codename für ein geheimes Forschungsprojekt der CIA, zur Kontrolle des menschlichen Gehirns.

Vor 20 Jahren veranstaltete der Heidelberger Kunstverein eine große Ausstellung
mit dem Titel: 'Blau - Farbe der Ferne'. Dazu erschien ein umfassender Katalog,
der nichts weniger versuchte, als das Phänomen Blau künstlerisch und kunstgeschichtlich
in den Griff zu bekommen, und damit "die Eigenarten dieser (Zitat): fast unbeschreiblichen Farbe,
die man sehend und denkend zu begreifen sucht, und die doch unbegreifbar erscheint." (Bd.2, S.8)
Von den alten Ägyptern bis in die Postmoderne wurde nichts ausgelassen.
Der blaue Mantel der gotischen Madonna, Leonardo da Vinci, Picasso und - natürlich
- Yves Klein, alle waren sie vertreten.
Die Ausstellungsmacher fragten damals: "Kann man angesichts der mächtigen Herausforderung
der Vergangenheit tatsächlich weiterhin blaue Bilder malen", . . oder "kann man Blau
nur noch historisch sehen und zitieren?"
Ein Zusatzband zur Ausstellung, mit dem Untertitel: 'g e d a n k e n d ä m m e r u n g s l ä n g s'
versammelte eine Fülle an Zitaten zur Farbe 'Blau'. Ich möchte einige wenige daraus zitieren.

"Wer nach dem Blau fragt, der meint das ganze Leben".
Uwe Kolbe (geb.1957)

"Wenn der eine 'blau' denkt, dann muss der andere unwillkürlich mitmachen.
(Paula Modersohn-Becker)

"Die blaue Unendlichkeit im Sonnenlicht, in Raumklarheit, verjagte alle Nachtgespenster
und meine Seele war wieder unsterblich."
Hans Thoma (1839-1924)

"Blau . . . ist der Glanz des Seelischen".
Rudolf Steiner (1861-1925)

"Blau - . . . schlägt langsame Sekunden. Zum Schwarz hin ist es ein Gedanke an Gestern,
zum Weiß eine Ahnung des Morgen. Rein in sich selbst ist es von Dauer."
Klaus Steinmann (geb. 1939)

"Blau ist . . . nicht durchsichtig, eher durch sich selbst durchscheinend: das Pigment metallisch,
in Kristallen schillernd, reflektierend . . ."
Bernd Zimmer (geb. 1948)

"Das Blau ist das Licht des Schwarzen - die tiefe Energie der Nacht . . ."
Simone Kornfeld (geb. 1954)

Blau ist der südliche Himmel und die Kälte des nördlichen Eises. . . . Blau ist kalt und warm,
sagte Klee. Blau ist die Farbe der Tiefe. Sie war das Medium der Mystik. . . .
Lao-tse sagte: Der Weise liebt das Blau".
Theo Kerg (geb. 1909)

"Blau ist die Farbe des Nichtankommens"
meint Angelika Overath, Spezialistin auf diesem Gebiet.

Und in einem Pop-Song heißt es:
"wo blau und blau sich treffen, (da) kommt man niemals an".

Zuletzt, Leonardo da Vinci: "Das Blau setzt sich aus Licht und Finsternis zusammen."

Alle diese Zitate betonen die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Farbe Blau.
Blau ist eine Farbe der Gegensätze. Und je länger man die Bilder von Edith Jung betrachtet,
je mehr Gegensätzliches ist auch in ihnen zu entdecken.
Ihre kühle, kristalline Farbigkeit ist einem Eisberg, einem Iglu näher
als einem Sommerhimmelblau. In ihren Farben spiegelt sich 'das blaue Licht' der Gletscher.

Die scheinbare Leichtigkeit und Flächigkeit ihres Farbauftrags entwickelt
eine überraschende Dynamik, die Transparenz der Farben eine eigenwillige Dialektik:
Denn Edith Jung malt nicht auf durchsichtiger Gaze, auf dünnem Papier oder
auf nachgiebiger Leinwand. Sie wählt sperrige Holztafeln, also einen robusten,
undurchdringlichen Bildträger. Transluzide Farben auf hartem Holz - das überrascht.
Diese Bilder leben aus Widersprüchen.

Die Intensität ihrer Bilder entsteht in einem aufwändigen, raffinierten
und langwierigen Malprozess. Die Holzplatten behandelt sie zuerst sorgfältig
mit einem Kreidegrund, eine alt erprobte Technik mittelalterlicher Tafelmalerei.

Ihre Farben stellt Edith Jung aus Pigmenten selbst her.
Sie vermischt sie mit Staub von Bergkristall, mit gemahlenem Perlmutt,
oder mit zart eingefärbtem Glasmehl. Das hört sich, trotz der Klarheit dieser Malerei,
geheimnisvoll an, fast ein bisschen nach alchemistischer Hexenküche.



Die Farben werden Schicht für Schicht aufgetragen, zuerst zart und dünn, später kräftiger.
Und jedes mal verändert sich die Oberflächenstruktur des Bildes. Manchmal scheint sie
glatt und weich wie Seide, manchmal ist sie durchwirkt von feinen Strukturen.
Jede Schicht braucht einen Tag - oder eine Nacht - zum Trocknen. Es ist ein Wechselspiel
von Aktion und Ruhe, eine Spannung zwischen der Spontanität und Schnelligkeit des Malens
und der Langsamkeit des Trocknens. Die gläsernen Farben entwickeln dabei eine Dominanz,
ja eine Autorität, die uns zu einem neuen Blick auf sie verleiten.

Diese Bilder können nicht allein auf die Farbe blau reduziert werden.
Denn jetzt stellen sich uns schwarze Zeichen und Balken entgegen.
Die Bilder sind durchsetzt von ihnen. 'Spuren' nennt Edith Jung eine ihrer Bilder-Serien.
Diese Zeichen irritieren. Sie stellen sich uns wie Hindernisse in den Weg,
fordern unsere Aufmerksamkeit. Sie wollen aus dem Hintergrund heraustreten,
wollen 'out of the blue' - im Englischen ein Synonym für etwas Unerwartetes,
Unvorhergesehenes.

Sie suchen nicht den Dialog mit der Fläche, mit der Farbe - sie suchen den Dialog mit uns.
Es sind Störfaktoren, die uns den Sehnsuchtsblick in die blaue Weite verstellen.
Manchmal, finde ich, haben sie etwas Koboldhaftes an sich. Aber sie sind nicht böse,
sie verletzen nicht. Es sind keine Ritzungen (wie bei Lucio Fontana).
Sie sind wie geheimnisvolle Runen, manchmal von der Leichtigkeit asiatischer Kalligrafie,
manchmal energiegeladene Balken. Sie verlaufen horizontal und vertikal,
zeigen einen energischen Pinselstrich oder sind nur schwache Schlieren.

Durch sie verliert sich unser Blick nicht im Unbestimmten, nicht im Unendlichen,
er fokussiert sich, er konzentriert sich. Diese schwarzen Zeichen, Striche und Linien
hindern uns daran, in den blauen Sehnsuchtsmetaphern der Romantik zu versinken.
Die blaue Ferne ist hier - 'so nah'.

Diese vielschichtigen Eindrücke, die ich zu schildern versuche, verstärken sich
durch die von Edith Jung gewählten Bildmaße. Die meisten ihrer Bilder sind Hochformate.
Es sind keine horizontalen Himmelsbilder, keine weiten Meereslandschaften.
Manchmal scheint der Horizont in die Vertikale gekippt, er wird sozusagen 'geerdet' -
es sind geerdete Sehnsuchtsbilder.

Wenn Edith Jung aber ihre Bilder wie zu einem Diptychon anordnet, wenn sie sich gegenseitig
zu spiegeln scheinen, dann entsteht eine verwirrende Doppelung. Diese Spiegelungen in Blau
(im Lichtfeld, wie sie zwei ihrer Bilder nennt) wirken suggestiv. Wir erleben,
wie -scheinbar- einfache Farbflächen einen fast unwiderstehlichen Sog entfalten.
Wenn dann noch im Hintergrund ihres Ateliers leise geheimnisvolle Musik von Philip Glass
zu hören ist - dann schlägt die 'blaue Stunde'.

Kann man heute noch blaue Bilder malen - Edith Jung kann es!

Hier noch der Schluss in der 'Rothko-Version':

Diese vielschichtigen Eindrücke, die ich zu schildern versuche, verstärken sich
durch die von Edith Jung gewählten Bildmaße. Die meisten ihrer Bilder sind Hochformate.
Es sind keine horizontalen Himmelsbilder, keine weiten Meereslandschaften.
Manchmal scheint der Horizont in die Vertikale gekippt, er wird sozusagen 'geerdet' -
es sind geerdete Sehnsuchtsbilder.

Die Wahl des Hochformats lässt mich an einen Künstler denken, der seine großen Farbflächen
auch fast ausschließlich im Hochformat anlegte: Marc Rothko (1903-1970),
berühmter Repräsentant des abstrakten Expressionismus, der 1970 gestorben ist.
Er wird der Wegbereiter der Farbfeld-Malerei genannt. Rothko hat seine monumentalen Gemälde
allein auf die intensive, kontemplative Wirkung der Farbe ausgerichtet. Sein Credo war:
"Bilder müssen geheimnisvoll sein."

Wie - scheinbar - einfache Farbflächen Dynamik, ja einen unwiderstehlichen Sog entfalten,
das lernen wir bei Marc Rothko, und das erleben wir bei Edith Jung.
Kann man heute noch blaue Bilder malen - Edith Jung kann es!